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„Kinder und Jugendliche brauchen Schutz statt Selbstdarstellungsdruck“

Schwerpunktthema Interview

Interviews und Gastbeiträge
Redaktionsnetzwerk Deutschland

Ob TikTok, Instagram oder Snapchat: Die Bildschirmzeiten von deutschen Jugendlichen sind besonders hoch. Das ergaben die Ergebnisse einer internationalen Vergleichsstudie der OECD. Im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) hebt Dr. Stefanie Hubig, Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz, hervor: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Zehn- oder Zwölfjährige am Smartphone radikalisiert und indoktriniert werden“.

Frau Hubig, haben Sie verstanden, auf welcher Rechtsgrundlage aktuell an den deutschen Grenzen Asylbewerber zurückgewiesen werden?

Auf deutsches Recht allein können diese Zurückweisungen nicht gestützt werden - so viel steht fest. Der Bundesinnenminister zieht deshalb ergänzend eine Vorschrift aus dem Recht der EU heran: Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Ist das für Sie einsichtig?

Es ist der einzige Weg. Dennoch bleibt richtig: Es wird sehr schwer sein, eine Begründung zu liefern, die den Voraussetzungen von Artikel 72 genügt. Der Bundesinnenminister hat die Zurückweisungen in eigener Verantwortung angeordnet. Das Verwaltungsgericht Berlin hat nun in drei Eilverfahren Zurückweisungen für rechtswidrig erklärt.

Das Berliner Verwaltungsgericht hat aber nicht nur in den drei Einzelfällen entschieden, sondern eine Grundsatzentscheidung gefällt.

Dem würde ich aus rechtlicher Sicht so nicht folgen. Das Gericht hat in seinen Eilentscheidungen klar gesagt: Die drei antragstellenden Somalier dürfen nicht zurückgewiesen werden, sondern müssen ein Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung erhalten. Es muss also geprüft werden, welches EU-Land für ihren Asylantrag zuständig ist. Unter Umständen muss dann ein Asylverfahren in Deutschland folgen. Der Bundesinnenminister hat zugesagt, dass er diesen Entscheidungen nachkommen wird.

Aber er hält trotz der grundsätzlichen Bedeutung der Entscheidungen an allen anderen Zurückweisungen von Asylbewerbern fest. Kann das sein?

Das Gericht hat seine Entscheidungen sehr ausführlich und genau begründet. Es geht auch auf Artikel 72 ein. Dessen ungeachtet haben diese Entscheidungen eine Bindungswirkung eben nur in Bezug auf die konkret behandelten drei Einzelfälle. Es ist auch nicht völlig ausgeschlossen, dass andere Gerichte in anderen Verfahren zu anderen Ergebnissen gelangen. Fest steht, wir werden weitere gerichtliche Entscheidungen sehr genau beobachten. Und natürlich werden wir dann auch darüber sprechen, ob man mit Blick darauf an den Zurückweisungen von Asylsuchenden festhalten kann.

Wann wäre für Sie eine Schmerzgrenze erreicht: Wenn der Europäische Gerichtshof im Sinne des Berliner Verwaltungsgerichts urteilt – oder vorher?

Wenn der Europäische Gerichtshof entscheidet, dass Artikel 72 nicht gegeben ist, dann ist es das allerletzte Wort. Bis zu einer Klärung durch den Europäischen Gerichtshof kann es jedoch dauern. Für mich ist klar: Der Bundesinnenminister muss nun sehr rasch die von ihm zugesagte Begründung nachliefern. Sollten unabhängige deutsche Gerichte dann immer noch zu der Auffassung gelangen, dass diese Zurückweisungen rechtswidrig sind, wäre es schwer vermittelbar, solange daran festzuhalten, bis auch der Europäische Gerichtshof dazu geurteilt hat.

Zur Wahrheit gehört, dass andere europäische Länder das Dublin-System ebenfalls nicht besonders ernst nehmen. Sie winken Flüchtlinge seit Jahren bis nach Deutschland durch. Was kann oder sollte Deutschland denn unternehmen, um national und international mehr Rechtssicherheit zu schaffen?

Fest steht: Das Dublin-System funktioniert nicht so, wie es funktionieren sollte. Und die Migrationsbewegungen der letzten Jahre stellen unser Land vor sehr große Herausforderungen. Deshalb müssen wir gemeinsam mit den anderen Staaten bessere Lösungen finden, um die irreguläre Migration zu begrenzen. Der Schutz der europäischen Außengrenzen ist dabei besonders wichtig. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Zahl der Asylanträge ist in den ersten Monaten dieses Jahres schon erheblich zurückgegangen: an den deutschen Grenzen um fast 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Daran sieht man: Eine Reduzierung der irregulären Migration ist möglich - auch ohne Zurückweisungen von Asylbewerbern an EU-Binnengrenzen. Jetzt müssen wir noch den nächsten Schritt machen und die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) schnell umsetzen. Denn natürlich brauchen wir ein Regelsystem, das insgesamt in Europa funktioniert und so auch Akzeptanz findet.

Die Richter des Berliner Verwaltungsgerichts, die das Urteil zu den Zurückweisungen gefällt haben, sind anschließend beschimpft und bedroht worden. Bröckelt bei uns die Achtung vor der Justiz?

Diesen Eindruck kann man leider bekommen. Die drei Richter sind schwer bedroht worden. Und das ist leider kein Einzelfall. Immer wieder werden Richterinnen und Richter bedroht und diffamiert. Das ist eine hochproblematische Entwicklung. Solche Angriffe richten sich immer auch gegen das Recht selbst und gegen den Rechtsstaat an sich. Ich wünsche mir, dass hier die Gesellschaft zusammen mit der Politik klar Flagge zeigt und sich entschlossen vor die unabhängige Justiz stellt. Ich werde das jedenfalls mit aller Kraft tun.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass da etwas grundsächlich ins Rutschen kommt?

Deutschland ist eine stabile Demokratie. Die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz sind historische Errungenschaften. Doch diese Grundsätze können unter Druck geraten - von innen und außen. Das erleben wir gerade. Da reicht schon ein Blick in die USA. Ich habe großes Zutrauen in die Stabilität der deutschen Demokratie. Aber wir müssen auch etwas dafür tun – auch für den Respekt vor staatlichen Institutionen und den Menschen, die für sie arbeiten. Denken Sie nur an die zunehmenden Angriffe auf Polizisten oder Rettungskräfte.

Sollten Angriffe auf Feuerwehrleute, Sanitäter, Polizisten oder Richter härter bestraft werden?

Schon heute können solche Angriffe streng bestraft werden. Aber ich kann mir vorstellen, dass wir an einigen Stellen nochmal nachjustieren - zum Beispiel bei Angriffen auf Einsatzkräfte. Solche Angriffe sind inakzeptabel und das muss im Strafgesetzbuch auch klar zum Ausdruck kommen. Um ein Beispiel zu geben: Es gibt Fälle, in denen Einsatzkräfte in Hinterhalte gelockt und dort angegriffen wurden. Das Unrecht solcher Angriffe wiegt schwer. Für solche Fälle könnten wir eine ausdrückliche Regelung im Strafgesetzbuch schaffen - mit einer schärferen Strafandrohung.

Noch zu einem anderen Thema: Der aktuelle Verfassungsschutzbericht zeigt einmal mehr, dass der Anstieg des Extremismus in Deutschland auch durch eine Radikalisierung in Online-Medien zu erklären ist. Brauchen wir mehr Regulierung?

Ich finde es vor allem alarmierend, dass sich immer mehr junge Menschen radikalisieren. Da spielt Social Media eine wesentliche Rolle. Gerade auch deshalb braucht es eine klare Altersgrenze für Tiktok und andere Plattformen - und die muss auch durchgesetzt werden. Und natürlich kommt es immer auch auf die Eltern und Schulen an, sie müssen Medienkompetenz vermitteln. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, eine Expertenkommission einzusetzen, die sich mit den Auswirkungen digitaler Medien auf Kinder und Jugendliche befasst. Mir ist wichtig, dass diese Kommission auch Möglichkeiten für eine strengere Regulierung prüft. Dazu sind Kollegin Prien und ich in guten Gesprächen.

Was kann eine Regulierung konkret leisten?

Bei der Verbreitung von strafrechtlich relevanten Inhalten enthält der Digital Services Act der EU klare Vorgaben. Diese gilt es durchzusetzen. Gerade beim Kinder- und Jugendschutz sehe ich noch Lücken. Es fehlt eine effektive Altersprüfung. Denn selbst legale Inhalte können für Kinder und Jugendliche hochproblematisch sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass Zehn- oder Zwölfjährige am Smartphone radikalisiert und indoktriniert werden. Gleichzeitig müssen wir natürlich auch die Meinungs- und die Informationsfreiheit von Kindern und Jugendlichen achten. 

Sie wollen zudem die Mietpreisbremse verlängern. Aber trotz dieser Bremse steigt die Zahl der Obdachlosen, auch weil Menschen wegen Mietrückständen aus ihren Wohnungen fliegen. Was wollen Sie dagegen unternehmen?

Der ungewollte Verlust der eigenen Mietwohnung ist eine Katastrophe für die Betroffenen. Deshalb will ich die Regelung über die Schonfristzahlung ausweiten: Mieterinnen und Mieter, denen wegen Mietrückständen gekündigt wurde, müssen eine Chance haben, den Verlust ihrer Wohnung abzuwenden. Sie sollen eine bereits ausgesprochene Kündigung nachträglich wieder beseitigen können, indem sie ausstehende Beträge bezahlen. Bislang gibt es eine solche Möglichkeit nur bei fristlosen Kündigungen. Mein Ziel ist es, dass die Schonfristzahlung auch für ordentliche Kündigungen gilt. Das ist ein Beitrag zum wirksamen Mieterschutz.  Und das wollen wir noch in diesem Jahr auf den Weg bringen.

Im Mietrecht ist ja auch eine Expertenkommission geplant. Was wollen Sie da noch erreichen?

Die Expertenkommission soll sich zum Beispiel mit der Mietwucher-Vorschrift befassen. Warum kommt der geltende Bußgeldtatbestand für Mietwucher nur so selten zur Anwendung? Und wie können wir diese Vorschrift effektiver gestalten? Auch darüber hinaus werden wir den Mieterschutz stärken. Wir wollen Indexmieten auf den Prüfstand stellen und schauen, ob und wie wir da zu einer Regulierung oder einer besseren Steuerbarkeit kommen. Durch die hohen Lebenshaltungskosten und die Inflation sind die Indexmieten durch die Decke geschossen. Außerdem wollen wir strengere Regeln für die Vermietung von möblierten Wohnungen aufstellen. Es ist eine Unsitte, Wohnungen mit einem Tisch und einem Bett auszustatten - im Glauben, man könne auf diese Art und Weise etwa die Mietpreisbremse aushebeln. Auch dagegen werden wir vorgehen.

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